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Sechster Brief: Vielleicht musst du dich einfach gehenlassen!

Heute habe ich einmal einen friedlichen Abend - ohne irgend ein Programm und ohne ganz k.o. zu sein! Da will ich Euch doch wenigstens ein kurzes Lebenszeichen schicken! Nur? Was soll ich erzählen? Wo anfangen?

Portland, Oregon, 1. Mai 1997

Liebe Alle


Nach den drei Wochen im Lande Krishnamurtis habe ich ein paar Tage in san Jose und dann drei Wochen in san Francisco zugebracht.


San Francisco war spannend, aber auch anstrengend. Ich habe mitten in der Stadt in einer Art Jugendherberge und Billighotel gewohnt. Meine Schwulen-WG habe ich nicht gefunden, jedenfalls keine, in der ein Zimmer für mich frei war. Die Anarcho-WG, in der ich die ersten beiden Nächte zugebracht habe, war äusserst spannend und sympathisch; doch hatten sie dort keinen Platz. Die zweite WG, deren Addresse ich aus der Schweiz mitgenommen hatte, erwies sich, was das Wohnen anging, als Flopp. Nach längerem Hin und Her und ein paar Besuchen - gemeinsamem Abendessen etc. etc. - haben die dortigen Herren beschlossen, dass sie es sich doch nicht zutrauen, vier Wochen lang mit mir zu wohnen - es könnte ihre Ruhe zu sehr stören ... Da ich inzwischen ohnehin beschlossen hatte, im "New Central Hotel" zu bleiben - die Ambiance und die Menschen dort haben mir immer besser gefallen -, war ich über diesen Entscheid weiter nicht unglücklich, wenn mich das komplizierte Getue dieser Herren (6 schwule Männer) auch genervt hat. Aber eben: Auch in San Francisco gibt es solche und solche und solche Menschen.

Ich habe relativ viel spannende Leute im Behindertenkuchen gefunden. Von diesem wollte ich zwar zuerst nichts wissen, doch nachdem ich einmal probiert hatte, muss ich sagen: er schmeckte überraschend gut -, d.h. die dort geknüpften Kontakte waren wirklich spannend und ergiebig: Spannend im Hinblick auf mein Interesse an der Schwulenszene in SF und auch im Hinblick auf mein Interesse am Segeln. In Beiden Richtungen habe ich viel gemacht und erlebt: Ich war zwei oder drei Mal auf der Bay, einmal mit einem Katamaran, zwei Mal mit einer Segeljacht der "Bay Area Association of Disabled Sailors". Ich habe die "Verleihung des goldenen Penis" miterlebt und mich anschliessend mit einem anderen Besucher dieser bierschwangeren Grossveranstaltung verlustiert. Ich habe mit Menschen über AIDS und nochmals AIDS gesprochen, habe mich im Castro - einem der legendären (ziemlich kommerziellen und, wie ich finde, nicht sehr interessanten) Schwulenviertel san Franciscos - herumgetrieben, habe mir ein Internet.Account zugelegt und tausend lustvolle Stunden damit zugebracht, irgendwelche Zugangsprobleme zum Netz zu lösen (der Durchbruch steht (noch) vor der Tür ...!) und einfach gelebt und überlebt! Spannend und anstrengend war's.

Inzwischen bin ich - seit einer knappen Woche - bei meinem (Uralt-Freund PeterDecius in Portland, Oregon. Ich habe Peter vor 23 Jahren (!!!) in Eugene kennengelernt. Er war damals gerade dabei, sein Studium als Bildhauer abzuschliessen, während ich mich an der University of Oregon von meinem Gymnasium erholt habe. Seither haben wir uns zwei oder drei Mal gesehen - zu letzt 1987, als ich für sieben Wochen durch die USA getourt bin und - ähnlich wie jetzt - alte Freunde besucht habe. Da Peter drei Tage vor meiner Ankunft in ein eigenes Haus umgezogen ist - nach unseren Begriffen eine respektable Villa mit Flussanstoss, nach US-Normen ein besseres Gartenhaus -, verbringen wir viel Zeit mit Aufräumen und Einrichten: Kartonschachteln zerlegen und - Achtung: Neudeutsch! - "entsorgen", Regale Zusammenbauen, Grossvateruhren wiederbeleben, Bilder aufhängen etc. etc. - Für mich ist dies eine wunderbare Abwechslung und Entspannung; Peter hat die Kartonschachtelei allerdings allmählich satt. Deshalb sind wir vor zwei Tagen auch ein wenig weggefahren, haben zwei Freunde von ihm besucht und auf Natur gemacht. - Jetzt ist Peter bei (s)einer (neuen?) Freundin (oje, er hat sich vor 2 Jahren von seiner Frau getrennt ...): Sie hat eine deffekte Toilette und Ausschläge wegen Poison Oak -, da ist er als rettender Ritter natürlich sehr willkommen! Ich benütze die Zeit und erledige liegen gebliebene Post, mache ein par Telefonate und texte etwas zhd des Verlages, der meinen Geheeb-Roman herausbringen will. Ja, der alte Geheeb lässt mich auch hier nicht ganz allein! - A propos: Habt Ihr's vernommen? Der Nationalfonds hat mein im September 96 eingereichtes Gesuch im März tatsächlich bewilligt und zwar praktisch ohne Abstriche und Modifikationen. Angesichts dessen, was mir alle Insider über das Schicksal von ErstgesuchsstellerInnen gesagt haben, ist dies geradezu ein kleines Wunder. Weshalb ich dieses Glück hatte -, darüber kann man natürlich viel spekulieren. Es könnte - könnte! - mit der Qualität meiner Arbeit zu tun haben - könnte, aber muss durchaus nicht! - Ich bin damit also finanziell und arbeitsmässig für weitere drei Jahre "versorgt", und ich muss sagen: ich finde das gut! - Ja, gell Gil, da staunst du: Ich, der ich immer etwas zu bemängeln und zu hinterfragen habe, finde das "gut"! Tja - man wird älter - oder vielleicht habe ich nach der ganzen Herumvagabundiererei einfach wieder Lust auf ein Stück meines alten Lebens. Wenn ich an dieses Projekt denke, sehe ich jedenfalls weniger die Rutine, den Archivstaub und die verkalkte Uni vor mir, sondern ich spüre die frische Luft neuer historischer Themen, spüre das Prikeln längst fälliger Auseinandersetzungen am päd. Seminar in Bern, freue mich auf die Menschen in der Ecole und meine Arbeit mit ihnen, freue mich auf die grosse zeitliche und inhaltliche Freiheit, welche ich bei der Gestaltung meiner Arbeit habe etc.! Ein Glückspilz bin ich eben!

Was meine Pläne angeht, so will ich noch ein paar Wochen hier im Westen bleiben. Dann muss und will ich mich in Richtung Ostküste aufmachen, um dort - entweder in Florida oder (wahrscheinlicher) irgendwo in der Karibik - ein Segelboot zu finden, welches mich mit nach Europa nimmt. Ob dies klappt und wie dies genau vor sich geht, wird man sehen. Ich habe in den letzten Wochen Addressen und Infos gesammelt und will die nächsten Tage u.a. dazu benützen, in dieser Richtung einiges abzuklären! Mitte August will ich jedenfalls spätestens wieder zuhause sein!!! Da könnt ihr also schon einmal eine Flasche Weissen kaltstellen und in Euren dicken Agenden ein paar Sommerabende für mich reservieren! Es darf gefeiert werden!!!

Ganz viele herzliche Grüsse

Martin!

Copy 1997 Martin Näf