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Die Befreiung der Kinder. Paul Geheebs pädagogische Ideen in unserer Zeit. Ein fiktiver Brief

Lieber Paul Geheeb, du fragst, wie es deiner Schule heute geht? Der Ecole d'Humanite, die du vor 75 Jahren mit so viel Hoffnungen eröffnet hast. Nun, die ersten 27 Jahre hast du ja noch miterlebt. Die 5 Jahre in Ponceard sur Versoix bei Genf, dann die Zwischenstationen auf den Plejaden, im Schloss Greng am Murtensee und in Schwarzsee im Kanton Fribourg und schliesslich der Umzug nach Goldern. Dort, auf dem Hasliberg, ist die Schule noch immer.

Sie hat sich äusserlich gewaltig verändert. Das Haupthaus ist noch da, und dein Studierzimmer ist noch beinahe genau so wie vor 50 Jahren, als du noch da warst und hofftest, die Schule noch einmal richtig "in die Höhe" zu bringen. Man braucht es heute für Besprechungen; abends sitzen oft Kamerad/innen der Helenfamilie an deinem Tisch und machen Hausarbeiten oder spielen Jazzi, Tichu oder sonst ein Spiel, das in der Schule gerade in Mode ist. Die Fotos all deiner Freunde und Freundinnen - Romain Rolland, Hermann Hesse, Maria Montessori, Ellen Key, Rabindranath Tagore und wie sie alle hiessen - hängen auch noch an den Wänden. Man hat dich also nicht vergessen! Heute gibt es sogar ein Paul-und-Edith-Geheeb-Haus. Es wurde an Stelle des alten Turmhauses gebaut und steht gegenüber dem Max-Cassirer-Haus ...
Du merkst schon, Geschichte und Tradition, wohin das Auge blickt. Die Schüler/innen heissen in der Ecole immer noch Kamerad/innen und die Erwachsenen heissen Mitarbeiter/innen. Auch darin ist man dir also treu geblieben.
Ob die Schule dir auch innerlich treu geblieben ist, ob sie nach wie vor in "deinem Sinn" arbeitet, möchtest du wissen? - Eine interessante Frage. Ich spüre in ihr die Sorge des Gründers, dass seine Ideen verwässert werden. Doch Paulus, warst du deinen Grundsätzen denn immer so treu? Ein wenig Untreue gehört doch zur Unvollkommenheit dieser Welt. Auch deine von dir und anderen gerne zum pädagogischen Paradies hochstilisierte Odenwaldschule war doch immer ein Kompromiss zwischen dem, was du wolltest, und dem, was sich unter deiner Leitung entwickelte! Du bist erstaunt? Aber fing der Kompromiss nicht schon damit an, dass du eine Schule gegründet hast, obwohl du eigentlich gar keine Schule wolltest?
Dein eigentlicher Traum war eine Art Dorf, eine Gemeinschaft, in welcher Kinder möglichst frei aufwachsen und sich entwickeln sollten, ungefähr so wie du als Kind in deinem geliebten Geisa mit seinen engen Gassen, seinen Handwerkern und Honoratioren, der Ulster, dem Stadtgraben, den umgebenden Wiesen und Wäldern und der Apotheke des Vaters. Einfach eine gute, reiche Umgebung mit freundlichen Menschen, die den Heranwach-senden hie und da etwas zeigen oder sie auch mal mithelfen lassen. Ein Ort, wo man auf Dachböden herumstöbern und Nachmittage im Wald zubringen kann, ein Ort, wo man vom Schreiner einen Groschen erhält, weil man ihm beim Kehren seines Hofes geholfen hat; ein Ort, wo der Pfarrer beim Aufräumen der Sakristei einem zufällig vorüberkommenden Jungen etwas über die Bibel oder den Sinn irgendwelcher heiligen Gefässe erzählt oder mit ihm über die Frage philosophiert, ob es einen Gott gibt... So ungefähr hast du dir deine "Schule" doch vorgestellt. So jedenfalls habe ich dein Ideal verstanden. Freiheit und wirkliches Leben, zu dem auch das Mithelfen und Arbeiten zählte, denn du musstest ja manchmal beim Giessen eurer grossen Gärten oder beim Zubereiten der Kräuter für die Apotheke mit Hand anlegen. Dazu ein bisschen Schule, nicht zu viel, einfach ein wenig formalen Unterricht als anregende Ergänzung des eigentlichen Lebens, auf keinen Fall aber eine schulische Dauerfütterung, die keinen Raum mehr lässt für die Entwicklung der eigenen Interessen.

"Kein Mensch wird kultiviert..." Entwicklung statt Erziehung.
Die moderne, auf der Idee zentral organisierter Stoffvermittlung beruhende Massenschule war für dich ein abscheuliches System, das nichts vom Zwecke der Menschenbildung weiss, und du warst dir ziemlich sicher, dass man nicht leicht eine raffiniertere Methode findet, alle Konzentrationsfähigkeit und Arbeitsfreudigkeit in der Jugend zu zerstören als diese Schule mit ihren andauernden Prüfungen und dem Karussell ständig wechselnder Fächer.1 Bildung war für dich eine ganz individuelle Angelegenheit, das Ergebnis eigener Anstrengung und eigenen Erlebens. Du warst überzeugt, dass man einem Menschen im Prinzip nichts beibringen könne. Wie oft hast du den alten Fichte mit seinem Kein Mensch wird kultiviert, jeder hat sich selbst zu kultivieren zitiert.2 Das war deine Lernpsychologie. Radikal und klar, nur für eine Schule etwas schwierig.
Als du 1936 - ihr wart damals schon in der Schweiz - im Rahmen einer Konferenz der holländischen Sektion der New Education Fellowship in Utrecht über das Thema "Leben und arbeiten mit Kindern" gesprochen hast, hast du bekannt: Ich würde am liebsten die Ausdrücke "Erziehung" und "erziehen" überhaupt nicht mehr gebrauchen, sondern vorziehen, von menschlicher Entwicklung zu sprechen (...). Was am Vorgang der "Erziehung" vernünftigerweise haltbar ist, das ist der Entwicklungsprozess, in dem sich jeder Mensch von der Geburt bis zum Tode - und hoffentlich weit darüber hinaus - befindet, der Prozess andauernder, zunächst unbewusster, allmählich bewusst werdender Auseinandersetzung, in der sich jedes Individuum mit seiner Umgebung, mit Menschen und Dingen, mit Natur und Kultur befindet, die empfangenen Eindrücke teils fruchtbar verarbeitend und als Bildungsstoffe zum Aufbau der eigenen Individualität assimilierend, teils aber ablehnend. Der Schulmeisterrock gehöre, so meintest du damals, ins Antiquitätenmuseum. Der Lehrerberuf habe sich überlebt, die Unterscheidung zwischen Schüler/innen und Lehrer/innen müsse über Bord geworfen wer-den.
Du hast Ähnliches schon früher gesagt, doch je älter du geworden bist, desto klarer hast du dich von der herkömmlichen Schule und dem ihr zugrunde liegenden Glauben, dass Wissen vermittelbar und Lernen organisierbar sei, distanziert. Stattdessen gehe es darum, so hast du den Menschen in Utrecht erklärt, alle Schulen in Lebensgemeinschaften umzuwandeln, in denen Menschen der verschiedensten Altersstufen (...) natürlich und unbefangen miteinander leben. Unbedingte Wahrhaftigkeit und unbegrenztes Vertrauen zwischen Alt und Jung muss in einer solchen Gemeinschaft bestehen; man muss wirklich miteinander leben; die Erwachsenen müssen nicht nur mit den Kindern spielen, arbeiten, wandern und alle die Interessen und kleinen und grossen Freuden und Leiden des Kindes teilen, sondern Letzteres auch, je nach seiner Reife, am eigenen Erleben und Schaffen teilnehmen lassen, so dass mehr oder weniger innige persönliche Beziehungen entstehen,3 Erwachsene waren dir wichtig, aber nicht als Erzieher/innen oder Lehrer/innen, sondern als ältere Freunde, als interessante Menschen und als Gesprächspartner/innen für die jungen Menschen, die daran waren, sich in die Welt einzuleben, sie zu begreifen und einen Platz in ihr zu finden.

Die Kompromisse in der Praxis
Das also ist deine Vorstellung von Schule. Schule? Nein. Eigentlich ist es doch die Beschreibung einer Welt OHNE Schule! Und doch hast du während mehr als 50 Jahren eine Schule geleitet. Warst du dir da wirklich treu? Stossen wir nicht bereits jetzt auf erste Widersprüche und Halbheiten?
Sicher, es gab in deiner Odenwaldschule, genau wie in der Ecole heute, ein Kurssystem, das es den Kamerad/innen im Prinzip erlaubte, sich ihren eigenen Lehrplan zusammenzustellen.
Doch genau wie in der Ecole heute mussten die Kamerad/innen sich etwas aus diesem Angebot auswählen. Das ist und war viel besser als das sonst noch immer übliche, jahrelange Befolgen eines weitgehend vorgegebenen Stundenplanes. Aber wie, wenn jemand im Grunde am liebsten nichts gewählt, sondern seine ganze Zeit mit etwas anderem zugebracht hätte? Hast du nicht gesagt: Kein Mensch wird kultiviert, jeder hat sich selbst zu kultivieren? Alles bloss leidende Verhalten ist das gerade Gegenteil der Kultur!
Ich weiss, im Fall von Klaus Mann warst du grosszügig. Du hast ihn ausschlafen lassen, diesen prominenten Odenwaldschüler, weil du wusstest, dass er in seinen Nächten häufig schrieb und in der Schule dann nicht zu brauchen war. Aber sonst? Wie ernsthaft habt ihr zu deiner Zeit mit den Kamerad/innen gesprochen, die sich für keinen der angebotenen Kurse wirklich entscheiden konnten, um herauszufinden, was diese tief in ihnen drin wirklich wollten? Und wie bereit wart ihr, auch auf Wünsche einzugehen, die nicht in das bestehende System passten? Hätte ich beispielsweise die Freiheit gehabt, für einige Wochen völlig aus dem Kurssystem auszuscheren, um mich ganz dem Bau der Kulissen für ein Theaterstück widmen zu können, oder hättest du mir erlaubt, während zwei Wochen jeden Vormittag bei einem benachbarten Bauern auszuhelfen? Ich glaube es nicht, in den allerersten Monaten der Odenwaldschule, in ihrer anarchistischen Zeit, vielleicht. Aber später? Nein. Sobald das Kurssystem einmal da war, war die Freiheit der Kamerad/innen und eure Offenheit gegenüber (abweichenden) Bedürfnissen bereits wesentlich eingeschränkt. Es ist wie mit dem Auto oder dem Rasenmäher: Wenn man die Dinger einmal hat, dann braucht man sie auch, und nach einer Weile glaubt man, nicht mehr ohne sie auszukommen. So sassen dann eben auch bei euch immer wieder Kamerad/innen in den Kursen, die innerlich nicht wirklich "Ja" zu dem Kurs gesagt hatten. In den Kursen hängen diese Menschen dann so drin, nicht ganz unglücklich, aber auch nicht wirklich voll da. Vielleicht machts ja plötzlich klick, und das innere Interesse erwacht, doch häufiger erwacht es nicht oder nur ein wenig, und so ziehen die betreffenden Kamerad/innen eben halbherzig mit-einen Monat, zwei Monate ... Das ist in der Ecole immer wieder der Fall, und das war in der Odenwaldschule nicht anders. Es gilt natürlich nicht für alle, doch für viele ist es so, eine weiche Variante des Spiels Schule sozusagen.
Du fragst, ob ich das "schlimm" finde. Schlimm? Nein, "schlimm" ist es nicht, denn die Ecole spielt das Spiel Schule im Vergleich zu anderen Schulen tatsächlich auf eine sehr kluge und humane Weise, genau wie die Odenwaldschule es tat. Doch wenn ich an dein Ideal von Kindern und Jugendlichen denke, die ganz genau und ungestört ihrer "inneren Spur" folgen und dem nachgehen, was sie beschäftigt, dann empfinde ich diese Art des Schule-Spielens tatsächlich als fad, und ich wünschte mir, du wärst deiner ursprünglichen Idee damals treuer geblieben, als du es warst. Dabei hilft mir unsere Zeit vielleicht mehr, als dir die deine geholfen hat, denn mit deiner Überzeugung, dass man im Grunde niemanden erziehen oder "bilden" könne, sondern jeder sich selber zu bilden habe, warst du damals doch ein ziemlicher Aussenseiter (man hat ja deine Schulen auch immer mehr bewundert als deine Theorie!), und es gab nur sehr wenige Beispiele dafür, wie die Verwirklichung dieser Idee in der Praxis aussehen könnte. Das hat sich inzwischen geändert.

Neue Verbündete: Rogers, Largo, Hüther und Co.
Zuerst kam der Amerikaner Carl Rogers, ein Mitbegründer der "humanistischen Psychologie" und ein anerkannter Professor und Wissenschaftler. Er hatte als Psychotherapeut beobachtet, dass er seinen Klient/innen keine wesentlichen Erkenntnisse vermitteln oder beibringen konnte, auch wenn sie ihm noch so richtig und wichtig schienen. Solche Erkenntnisse oder Einsichten seien, so stellte er fest, Teil eines inneren Entwicklungs- und Wachstumsprozesses, den er lediglich fördern, dessen Ziele er jedoch nicht bestimmen könne. Das einzig Hilfreiche, was er als Therapeut tun könne, sei Anteilnehmen, Mitfühlen und Mitdenken. Ende der 1960er-Jahre veröffentlichte er schliesslich ein Buch, in welchem er feststellte, dass kognitives Wachstum und schulisches Lernen letztlich denselben Gesetzen folgen wie der persönliche Wachstums- und Erkenntnisprozess eines Menschen.4 Wirklich signifikante Erkenntnisse könne man nicht vermitteln, weder als Therapeut/in, noch als Lehrer/in. Bildung ist also auch für Rogers nicht organisierbar. Was "organisierbar" ist, seien Umgebungen oder Situationen, die echter Anteilnahme und fruchtbaren Begegnungen zwischen Menschen - zum Beispiel zwischen älteren und jüngeren Menschen - förderlich seien. Diese Feststellung dokumentierte er mit Beispielen aus unterschiedlichen schulischen Bereichen, die dich sicher interessiert hätten.
Zu den vielen, die sich damals ähnlich wie Rogers5 äusserten, gehörte auch Ruth Cohn, welche diese Haltung in ihre Arbeit mit Gruppen einbrachte. Du weisst, dass sie 1974 in die Ecole kam. Auch ihre Methode der "Themenzentrierten Interaktion" ist eine Art Konkretisierung deiner allgemein formulierten Ideale.
Im Verlauf der 1980er-Jahre nahm der Einfluss der humanistischen Psychologie wieder ab. In den 1990er-Jahren galt das, was Rogers und andere gesagt hatten, in weiten Kreisen der Erziehungswissenschaft (die ja [noch?] nicht "Entwicklungswissenschaft" heisst) als pädagogischer Kitsch).6 Doch schon bald kamen neue Expert/innen - pädagogische Praktiker/innen wie der Schweizer Lehrer Peter Fratton und eine wachsende Anzahl von Menschen mit eher naturwissenschaftlichem Hintergrund -, die den alten Glauben an die Vermittelbarkeit von Wissen erneut in Frage stellten. Sie stossen noch immer auf grosse Beachtung. So sagte der Zürcher Kinderarzt Remo Largo, der während mehr als 30 Jahren das Lernverhalten von Kindern untersucht und dokumentiert hat, in einem Interview Anfang 2008 beispielsweise: Sie können einem Kind Dinge eintrichtern wie in der Koranschule, aber Sie können ihm absolut nichts beibringen, wozu es nicht selber bereit ist,7 und in einem Gespräch mit der "Süddeutschen Zeitung" stellte der Hirnforscher Gerald Hüther im Herbst desselben Jahres fest: Es gibt keine Motivation von aussen. Wir haben lediglich die Möglichkeit, die Motivation, die ein Kind von vornherein mitbringt, nicht kaputt zu machen. Gefragt, was die Erwachsenen angesichts dieser Feststellung denn tun sollten, sagte er: Sie tun den Kindern einen grossen Gefallen, wenn sie sich weniger einmischen und ihnen Raum für eigene Erfahrungen lassen. Denn eines wissen wir heute sicher: Lernen ist nur nachhaltig, wenn es erfahrungsbasiert ist. Es muss unter die Haut gehen! Das ganze Auswendiglernen kann man vergessen.8
Du siehst, Paulus, du stehst nicht mehr so alleine da wie vor 50 oder 80 Jahren. Das ist ermutigend. Allerdings ist die Frage, für welche "Pädagogik" wir uns entscheiden, letztlich ja nicht eine Frage der Mehrheitsverhältnisse oder irgendeines Expertenurteils. Am Ende geht es auch im Bereich von Schule und Erziehung nur um die Frage, für welche Welt wir uns einsetzen wollen. Wir sollten uns unsere Ideale deshalb nicht zu schnell kleinreden lassen. Ich weiss, dich muss ich nicht daran erinnern. Du hast es deinen Mitarbeiter/innen und Kamerad/innen oft genug gesagt: Von der Menschheit - du kannst von ihr nie gross genug denken. Wie du im Busen sie trägst, prägst du in Taten sie aus. (Schiller) - Dennoch, Paulus, es scheint, dass die Hoch-Zeit der auf zentraler Planung und hierarchischer Stoffvermittlung beruhenden Schule tatsächlich vorüber ist. Sie ist zwar noch immer mächtig, zu mächtig!, doch immer mehr Menschen machen sich von ihr unabhängig und auch in ihrem Innern wachsen die Zweifel.

Das Ende der Schulgläubigkeit
Schon zu deiner Zeit gab es viele "freie" Schulen. Es gab Landerziehungsheime, Waldorf- und Montessorischulen. Vor allem die Zahl der Montessori- und der Waldorfschulen hat in den letzten dreissig Jahren weltweit enorm zugenommen. Seither sind weitere Schulbewegungen mit immer freieren Konzepten entstanden: die "freien Volksschulen" und die "freien Alternativschulen", die nach Rebeca und Mauricio Wild benannten "Wildschulen", die "Lernhäuser" Peter Frattons und - neben vielen Einzelinitiativen - als letzte grössere Bewegung die "Sudburry-Schulen" oder "Demokratische Schulen". In ihnen wird neben der Betonung der Lernfreiheit besonderes Gewicht auf die demokratische Mitgestaltung der Schule durch die Kinder und Jugendlichen gelegt. Es ist im Prinzip dieselbe Zielsetzung, die der Ecole zu Grunde liegt, oder erinnert es dich nicht an viele Sätze, die du selbst geschrieben hast, wenn die Kapriole, eine "demokratische Schule" in Freiburg i. B. beispielsweise schreibt: Die Kinder an der freien demokratischen Schule Kapriole lernen, wann, wo, was, wie und mit wem sie wollen. Sie haben die Freiheit, zu tun was sie möchten, solange es die Freiheit der anderen nicht einschränkt. Alle Belange des Schulalltags werden in der wöchentlichen Schulversammlung diskutiert und beschlossen, in der Schüler/innen und Lehrer/innen gleichberechtigt eine Stimme pro Person haben.9
So wie am Ende des Kirchenzeitalters die Zahl derjenigen wuchs, die darauf bestanden, dass echte Religion von keinem Priester vermittelt und abgesegnet werden könne und dürfe, sondern sich nur von innen her entwickeln und sich als ganz individuelles Ergebnis eigenen Denkens und eigener Erfahrung entfalten müsse, so wächst heute die Zahl der Menschen, welche den, in unseren Gesellschaften bestehenden direkten und indirekten Bildungszwang als eine unzulässige ideologische Vereinnahmung des Einzelnen und der gesamten Gesellschaft empfinden. Dabei ist für die radikalsten unter ihnen auch eine (freie Schule» noch zu sehr Schule. Sie stehen jeder dauerhaften Verbindung von Bildung und Lernen mit einer bestimmten Institution skeptisch gegenüber.
In den USA gehen mittlerweile - zu deiner Zeit undenkbar! - rund zwei Millionen Kinder und Jugendliche nicht mehr zur Schule. Auch in Europa, ja sogar in Indien und anderen Ländern rund um unseren Globus nimmt die Zahl dieser "Homeschooler" zu. Die Motive der Homeschooler sind sehr ver-schieden, oft geht es darum, die Kinder vor der Zersetzung ihres christlichen oder sonstigen Glaubens durch die allzu weltlichen Lehren (und die Amoralität) der öffentlichen Schulen zu schützen. In einzelnen Fällen spielen auch Verwahrlosung oder symbiotische Verhältnisse zwischen Eltern (häufig allein erziehende Mütter) und ihren Kindern eine Rolle. Oft wird die öffentliche Schule auch lediglich durch eine Art Schule am Küchentisch ersetzt, die unterm Strich vielleicht wesentlich langweiliger ist als die öffentliche Schule. Aus all diesen Gründen wird die Bewegung in der Regel stark kritisiert. Dabei wird das Kind allerdings oft mit dem Bade ausgeschüttet, denn innerhalb dieser Bewegung gibt es auch eine grosse Anzahl von Menschen, die sich für diesen Weg entscheiden, weil sie gesehen haben, wie gut sich ihre Kinder während der ersten Lebensjahre entwickelt haben, und weil sie keinen Grund sehen, diese in vollem Gange befindliche Entwicklung plötzlich durch irgendeine künstliche Massnahme zu unterbrechen. Sie vertrauen weitestgehend auf die "natürliche" Entwicklung ihrer Kinder und verzichten nach Möglichkeit auf jede schulförmige Beeinflussung.
Diese Kinder - sie nennen sich in Abgrenzung zur Mehrheit der weniger radikalen Homeschooler meist Non-Schooler - entdecken und erschliessen sich die Welt auf ihre eigene Weise, in ihrem Tempo und gemäss ihren Interessen, wobei sie gegebenenfalls auch traditionelle schulische Angebote nutzen. Es handelt sich gewissermassen um einen grossen "Freilandversuch", an dem wir erstmals im grossen Stil beobachten können, wie junge Menschen sich in der modernen Zivilisation entwickeln und durch welche Aktivitäten sie ihre "Bildung" aufbauen, wenn sie dabei nicht durch irgendwelche Lehrpläne gesteuert und durch Noten etc. vorangeschoben werden.10
Die Non-Schooler-Bewegung wirft viele Fragen auf, doch mir scheint, dass mit ihr im Grunde genau das Realität wurde, was du politisch erträumt hast: Eine aus vielen Einzelnen bestehende, bunte Bewegung von Kindern und Jugendlichen, die, begleitet, beraten und ermutigt von den sie umgebenden Menschen, dabei sind, die Welt auf ihre Weise zu entdecken und sie vielleicht auch ein Stück weit neu zu interpretieren und zusammenzubauen, anstatt sich als brave Schüler/innen mehr oder weniger lustlos all das anzueignen, was die Erwachsenen für wichtig und richtig halten.

Das Heil kommt von den Kindern. Revolution von unten?
Menschen, die dich nur wenig kennen, dürften Mühe haben, den Zusammenhang zwischen deinen pädagogischen Ideen und der Bewegung der Non-Schooler zu verstehen. Aber du selbst hast im Rahmen des oben er-wähnten Vortrags in Utrecht im Jahre 1936 - und ansatzweise schon bei früheren Gelegenheiten - die von den heutigen Non-Schoolern praktizierte "restlose Abrüstung im Lager der Erwachsenen" gefordert, weil ihre Wahrheiten überlebt seien. Erinnerst du dich: Völlig ausrotten muss der Mensch in sich den Dünkel, in irgend einer Hinsicht mehr zu sein als ein Kind. (...) Eine gewaltige und restlose Abrüstung muss im Lager der Erwachsenen stattfinden, eine Abrüstung der riesengrossen physischen und intellektuellen, wirtschaftlichen und technischen Übermacht, die der Erwachsene gegenüber dem Kinde, dem bildsamsten und unterdrückbarsten Geschöpf auf Gottes verschandelter Erde, mit Selbstverständlichkeit bisher zu gebrauchen, also zu missbrauchen pflegte,11 Dabei war diese Forderung für dich weder eine Frage abstrakter Gerechtigkeit noch eine Frage der Freundlichkeit gegenüber Kindern. Du sahst die Welt vor dem Abgrund.
Für dich gab es keine Legitimation mehr für die gewaltsame Eingliederung der Jugend in unsere "Kultur". Du hast der Welt die Berechtigung abgesprochen, auf ihr Erwachsensein zu pochen, denn, so hast du ein paar Jahre später gefragt: Können wir wirklich stolz sein auf die hochentwickelte, weise Weltwirtschaftspolitik, infolge deren man Nahrungs- und Genussmittel in solch übermässiger Fülle produziert, dass sie in grossen Massen ins Meer versenkt werden müssen, während zugleich Millionen Menschen dem Hungertode erliegen; auf die herrliche Entwicklung der Kriegsrüstungen, deren vor 20 Jahren noch nicht geahnte Fortschritte es heute ermöglichen, durch ein einziges Maschinengewehr in wenigen Minuten Tausende von Menschen zu töten, ja, Flugzeuge mit so unglaublichem Tonnengehalte zu konstruieren, dass durch die von ihnen abgeworfenen Massen von Pestbazillen und Giftgasbomben in kürzester Zeit Hunderttausende von Menschenleben vernichtet werden können.
Ein grundlegend anderer Umgang mit der Jugend, der Abbau unserer mit Selbstverständlichkeit ausgeübten Herrschaft über sie, war für dich wenn nicht das einzige, so doch das wichtigste und langfristig wirksamste Mittel, die Welt wieder in ein vernünftiges Gleichgewicht zu bringen.
Du hast auf eine Art Revolution von unten gehofft, eine Erneuerung der Welt durch die Jugend. Du warst überzeugt, dass aus den Kindern, aus der Jugend Ströme neuen Lebens kommen, die uns Erwachsene, die wir ratlos und verzweifelt vor dem Chaos stehen, aus dem Elend retten.
Das Heil komme von den Kindern, so hast du oft gesagt. Dabei sei dieses Jesuswort alles andere als der "liebenswürdige Scherz eines Kinderfreundes". Denn: Wenn die heutige Menschheit diese uralte Weisheit in ihrer ganzen Grösse und Tiefe verstände und anzuwenden wüsste, so würde sie die Erlösung für ungezählte Millionen gequälter Menschen auf der ganzen Erde bedeuten, die heute, mit mehr oder weniger klarem Bewusstsein, am Ende ihrer Erwachsenenweisheit sind. Die Menschheit liegt schwer krank.12 Was würdest du erst sagen, wenn du sehen würdest, wie sich die Welt seither entwickelt hat: Die Unterschiede zwischen reichen und armen Menschen und Staaten haben weiter zugenommen. Das Trinkwasser wird knapp. Das Klima spielt verrückt. Die Gletscher und das Polareis schmelzen. Der Meeresspiegel steigt. Täglich sterben 100 000 Menschen an den direkten oder indirekten Folgen von Hunger. Die Artenvielfalt auf der Welt geht dramatisch zurück. Verschiedene Rohstoffe werden knapp. Die Belastung der Biosphäre durch atomaren Müll, Schwermetalle und andere giftige Substanzen steigt kontinuierlich ...
Ich könnte zahlreiche weitere Probleme nennen. Die Zivilisation des Westens ist nach der Meinung vieler zur grössten Bedrohung ihrer selbst geworden. Dabei verfügen wir kaum mehr über Widerstandskräfte: Durch die in der Schule stattfindende Gewöhnung an die dauernde Berieselung mit "Lerninhalten" und den Zwang zum Konsum immer neuen Schulstoffes auf subtile Weise verwirrt und geschwächt, sind wir einer von riesigen Marketingfirmen und einer global agierenden Unterhaltungsindustrie dominierten Welt praktisch wehrlos ausgeliefert. Was wir brauchen, sind starke Individuen, Menschen, die gelernt haben, innerlich und äusserlich auf eigenen Füssen zu stehen und sich und anderen zu trauen.

Schluss
Lieber Paulus, das sind also deine Ideen, wie ich sie verstehe. Sie sind Teil einer Vision, die weit über die Schule hinaus reicht. Es ist im Grunde ein Appell an die ganze Welt. Ein Aufruf zu einer kopernikanischen Wende in der Pädagogik; ein Programm voll Pathos und voll von dem "Hyperidealismus", den du in deiner Jugend so verurteilt hast, aber - je nach Standpunkt - durchaus nicht unrealistisch und in gewissem Sinn viel vernünftiger als die aktuelle Bildungspolitik. Im Grunde willst du nicht Schulreform, sondern Gesellschaftsreform im Sinne der von Ivan lllich und anderen in den 1970er-Jahren beschriebenen "Wiederherstellung der Konvivialität".13 Wohnliche Quartiere, sichere Strassen, Platz und Zeit zum Spielen und Reden, eine menschlichere Technik ... Deine so radikal klingende Forderung der ist im Grunde genau das, was in der Kinderrechtsbewegung heute als neuer Generationenvertrag bezeichnet wird.14 Dass dieser keine unerreichbare Utopie bleiben muss, zeigen nicht nur die oben erwähnten Entwicklungen im Bildungsbereich, sondern auch viele aus dieser Kinderrechtsbewegung kommende Initiativen wie etwa die Forderung nach dem Wahlalter null oder die Einrichtung von Kinder- und Jugendparlamenten. Noch handelt es sich dabei um eine vergleichsweise schwache Bewegung, doch vielleicht verändern sich unsere Vorstellungen darüber, was Kinder sind und können, in den nächsten Jahrzehnten tatsächlich genauso dramatisch, wie sich unsere Vorstellungen von der "Unvernunft der Frauen" oder dem "tierischen Charakter" anderer Völker im Laufe der letzten zwei, drei Jahr-hunderte verändert haben! Diese Veränderungen schienen anfänglich ja ebenfalls unmöglich und entsprechende Ideen galten als absurd.
Und die Ecole? Ja, Paulus, auch dort leben deine Ideen, vielfach bedrängt von Sachzwängen, eigenen und fremden Bedenken und Ängsten und zugedeckt durch die tägliche Routine wie an anderen Orten auch. Sie leben, auch wenn die Schulgemeindeversammlung lebendiger, das Kurssystem noch beweglicher oder die ethnische und kulturelle Vielfalt innerhalb der Schule noch grösser sein könnten etc. Doch du hast ja am eigenen Leib erlebt, wie sehr die Anforderungen und Erwartungen der Umgebung und die tausend kleinen Schwierigkeiten des Alltags ermüden können und wie wenig Zeit und Müsse dieser Alltag für das Gespräch darüber lässt, was ist und was sein könnte! Doch, lieber Paulus, während ich dieses schreibe, wird ein neuer Wechsel in der Schulleitung vorbereitet. Mag sein, dass dieser Wechsel auch Kräfte zu einem neuen Aufbruch mit sich bringt. Zu wünschen wäre es, damit die Ecole weitere 75 Jahre oder noch viel länger bleibt, was sie bisher war: mutig in ihrer Standhaftigkeit, menschlich in ihrem Pragmatismus und ein wunderbarer Ort für sehr viele junge und alte Menschen.

1 Geheeb 1955, S. 79-80. (Genaue Quellenangaben zu den hier zitierten Geheeb-Texten finden sich im Literaturverzeichnis am Ende des Bandes.)
2 Das Zitat findet sich in Fichtes 1793 in Danzig erschienenem "Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die Französische Revolution". Es lautet vollständig: Kein Mensch wird kultiviert, jeder hat sich selbst zu kultivieren. Alles bloss leidende Verhalten ist das gerade Gegenteil der Kultur. Bildung geschieht durch Selbsttätigkeit und zweckt auf Selbsttätigkeit ab.
3 Geheeb 1936, S. 6 und 7.
4 Rogers, Carl R.: "Lernen in Freiheit. Zur Bildungsreform in Schule und Universität". Amerikanisches Original 1969, München 1974.
5 Vgl. zum hier skizzierten Problem auch die sehr präzise Analyse von Holzkamp, Klaus: "Die Fiktion administrativer Planbarkeit schulischer Lernprozesse". In: Braun, K.H. & Wetzel, K. (Red.): "Lernwidersprüche und pädagogisches Handeln". Marburg, 1992, S. 91-113. Online auf http://www.kritische-psychologie.de/texte/kh1992a.html.
6 Reichenbach, R. & Oser, F.: "On Noble Motives and Pedagogical Kitsch. Rogers' and Freibergs "Freedom to Learn" in "Teaching and Teacher Education", Vol. 11,2,1995, S. 189—193
7 Interview mit Remo Largo im "Magazin" des "Tages-Anzeigers" und der "BaZ" vom 12./13.01.2008.
8 Hüther, Gerald: "Schluss mit der Dressurschule. Der Neurobiologe Gerald Hüther über die Folgen von Druck in der Bildung". Interview mit Simone Kosog, Süddeutsche Zeitung 17.September 2008.
9 http://www.kapriole-freiburg.de/diekaprioleist.html, gefunden am 20.11.2008.
10 Vgl. dazu neben der grossen Materialfülle im Internet besonders: Ray, Brian D.: "World-wide Guide to Homeschooling. Facts and Stats on the Benefits of Home School". Nashville, 2003. Spiegler, Thomas: "Home Education in Deutschland. Hintergründe - Praxis - Entwicklung". Wiesbaden, 2007. Keller, Olivier: "Denn mein Leben ist Lernen. Wie Kinder aus eigenem Antrieb die Welt erforschen". Freiamt im Schwarzwald, 1999.
11 Geheeb 1936, S.8.
12 Geheeb 1939/1970, S. 195-197
13 lllich, Ivan 1975: "Selbstbegrenzung. Eine politische Kritik der Technik". Reinbek bei Hamburg.
14 Braunmühl, Ekkehard von 1986: "Der heimliche Generationenvertrag. Jenseits von Pädagogik und Antipädagogik". Reinbek bei Hamburg.