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Die Grille und die Ameise oder: Wie viel Pensionskasse braucht der Mensch?

Die Grille hatte einen herrlichen Sommer gehabt- einen ganz wunderprächtigen super schönen Sommer! Wie hatte sie diese warmen Tage genossen! Hatte sich von der Sonne ihre Flügel und ihre Steckenbeine grillieren lassen, hatte mit allen Blumen und Gräsern, allen Käfern und Käferinnen, allen Bienen und Wespen herumgeschmust und sich natürlich auch ausgiebig von anderen Grillen verwöhnen lassen! - Ach! Es war so herrlich! Ihr durchschnittlich vertrockneten, verernsteten Menschen könnt es Euch einfach nicht vorstellen.

Aber. Natürlich: Man kennt die Geschichte. Es wird Herbst, die Tage werden kürzer, die Sonne verliert an Kraft. Zuerst erobert der Nebel sich die Erde, dann fängt es an zu regnen und wird kalt und nass. Oje. Das ist keine gute Zeit für unsere Grille. Ihre Glieder sind so steif, dass an Singen und Tanzen längst nicht mehr zu denken ist. Nein, sie muss, wie la Fontaine es wollte, Zuflucht bei der Ameise suchen.

Sie hatte die Ameise schon früher gesehen, doch hatte sie nie Zeit für dieses langweilige Wesen gehabt, das immer mit irgend etwas furchtbar langweiligem beschäftigt schien, irgendetwas von hier nach dort schleppte anstatt wie die Grille zu singen und zu tanzen und in der Sonne zu liegen. Jetzt aber erinnerte sie sich doch an diese Ameise und ging zu ihr hin.

Die Ameise öffnete die Türe ihres Hauses nur einen Spalt breit, "wegen der Zugluft" und "man weiss ja nie". Sie kuckte misstrauisch: "Bitte?". - "Ach", sagte die Grille verlegen, "wir kennen uns doch vom grossen Haferfeld, und - ja, weil es jetzt so kalt und nass ist und der Radio Schneee gemeldet hat, da wollte ich fragen, ob ...".

Doch weiter kam die Grille nicht, denn die Ameise fiel ihr unversehens ins Wort und höhnte: "O ja! Jetzt wollen sie sehen, ob Sie vielleicht bei mir unterschlüpfen und sich auf meine Kosten vollfressen können! Tja, so weit kommt es noch! Wer bin ich eigentlich! Den ganzen Sommer kuckt man hochnäsig auf mich herab, macht sich hinter meinem Rücken über mich lustig .... Ja, ja, Sie brauchen gar nicht sounschuldig dreinzuschauen! Ich bin ja nicht blöd! "Bünzlige Gritte" und so ... Ich weiss schon, was sie da immer geflüstert haben mit ihren Freundinnen! Und jetzt! Jetzt ist man plötzlich gut genug! Jetzt kommt das Pack und bettelt um Aufnahme! Nein, nein, sicher nicht ....".

Die Ameise fuchtelte mit ihren Füsschen durch die kalten Lüfte und ereiferte sich furchtbar. Die Grille stand wie vom Donner gerührt. Sie hatte erwartet, dass die Ameise etwas unwillig und unfreundlich reagieren würde, aber diesen Ausbruch – nein, den hatte sie nicht erwartet. Sie versuchte ein oder zweimal den Redefluss der Ameise zu unterbrechen, sagte "Ich verstehe ja ..." und "Ich kann schon begreifen ...", doch von "verstehen" und "begreifen" wollte die Ameise nichts wissen: "Verstehen – begreifen! Paperlapap. Jetzt kommen Sie angekrochen. Jetzt bin ich plötzlich gut genug. Aber im Sommer. Im Sommer! Nein meine Liebe, nein. Nicht mit mir!" Sprach's und schlug der Grille die Türe vor der Nase zu.

Da stand sie nun wie ein begoss'ner Pudel und es war kalt, sau kalt sogar und ihr Magen knurrte. Die Ameise hatte ja irgendwie schon recht, dachte die Grille, aber - sie hätte doch trotzdem ein wenig freundlicher sein können ... So dachte sie in ihrem kleinen Gehirn und sprach zu ihrem betrübten Herzen, während sie zwischen den Stoppeln des Haferfeldes hindurchging, in der Hoffnung, vielleicht doch noch irgendwo ein bisschen was Essbares zu finden.

Derweilen kehrte die Ameise in ihre Stube zurück. "Der hab ich's gezeigt", dachte sie bei sich und war mächtig froh und stolz! Sie war eben daran gewesen, die Gebrauchsanleitung für ihren neuen Videorecorder zu studieren und setzte nun diese gewichtige und nicht leichte Aufgabe fort. Sie freute sich schon darauf, von jetzt an alle Folgen der Serie Flimmerland und alle anderen Filme, die sie interessierten aufnehmen zu können. Ja, sie hatte es schön bei sich und behaglich! - Natürlich, manchmal war es etwas langweilig, aber das war sie gewohnt und dann hatte sie ja jetzt den Videorecorder! Nein. Sie hatte ein gutes Leben!

Die Grille wusste nicht, wie es möglich war, doch um Weihnachten herum lebte sie immer noch! Aber es ging ihr schlecht und sehr lange würde sie, das spürte sie deutlich, nicht mehr weiterleben können. Sie war vor Kälte und Hunger ganz geschwächt, und sie bestand nur noch aus Haut und Knochen, wie man so sagt. Manchmal lag sie einen halben Tag nur so da und bewegte sich nicht mehr. Aber irgendwie war sie noch am leben.

Die Ameise hatte die Langeweile etwas unterschätzt, das musste sie zugeben. Auch der Videorecorder hatte nicht die Belebung gebracht, die sie sich davon erhofft hatte. Zuerst hatte sich eine Kassette in dem Ding verklemmt, dann hatte man ihr im Geschäft gesagt, dass dies kein Garantiefall sei, dann hatte man die Flimmerland-Serie abgesetzt und irgendwie schien ihr nichts mehr Spas zu machen. "Ja, es geht mir", sagte sie zu sich selbst, "es geht mir nicht gut, obwohl es dafür eigentlich keine Gründe gibt!"

Die Grille lag halb ohnmächtig im Schnee. Bald würden die weissen Flocken sie ganz zudecken! Sie dachte voller Sehnsucht und voller Freude an den Sommer, an die Lieder, an all die lieben, guten Tiere, an Zeckmarie, das Käfermädchen und Ramabal, den Schmetterling – Gott wie hatte er geküsst! Ach, was für eine schöne Zeit hatten sie miteinander gehabt! Dann aber merkte sie, dass sie sterben müsse, und sie wurde ganz wehmütig! Sie erinnerte sich, wie sie sich in leicht arrogantem Ton über die so uninspirierte Ameise unterhalten hatten. Sie hatten sich in ihrem höheren Begreifen der Welt gesonnt, hatten über das Leben im hier und jetzt philosophiert und - den "Lebenssinn als gelebte Sinnlichkeit" begreifend – jeden Augenblick genossen und nach Kräften gelebt und jetzt ... jetzt sollte das alles vorbei sein!? – Sie fragte sich, ob sie damals vielleicht doch auch ein wenig an später hätte denken müssen. Weshalb hatte sie beim Wort Pensionskasse nur immer die Nase gerümpft? Und weshalb wollte sie nie etwas von "Sparen" hören. Ja, jetzt musste sie die Zeche bezahlen für ihren Übermut, musste für all die wunderbaren, frohen Tage bezahlen. Das war bitter.

Die Ameise war frustriert. Sie hatte alles und war doch nicht zufrieden. Sie stand in ihrer noch fast neuen Einbauküche und starrte durch's Fenster. Sollte sie sich noch einen Kaffee aus ihrer Neuen Hightech-Kaffeemaschine lassen -, den 8. seit heute früh? Nein nein nein. Sie wollte nicht. Sie ging in ihre gemütliche Stube. Sie griff zur Fernbedienung ihres Fernsehers. Sollte sie vielleicht doch noch ein wenig ??? Ach was. Sie hatte seit Tagen fast nur in die Glotze geguckt und war dabei immer trauriger und missmutiger geworden. Sie legte die Fernsteuerung an ihren Platz auf dem Clubtischchen zurück. Es war schön warm in ihrer Stube, aber in ihr drin war kalter Winter.

"Das ist also das Ende", dachte die Grille. Ja, es war sehr Schade. Nie mehr die warme Sonne auf ihrem Buckel fühlen, nie mehr mit Baldoin im Heu umhertollen, sich nie mehr von ihm kitzeln und vernaschen lassen! Nie mehr den besoffenen Mond am Himmel sehen ... Ach war das alles traurig! Aber sie war selber Schuld. Hätte sie sich ein Beispiel an der Ameise genommen, dann könnte sie jetzt auch in einem warmen Häuschen sitzen und fernsehen und am Abend würde sie ein Bierchen aus dem Kühlschrank holen und ein neues Paket Rauchmandeln öffnen. Ach, warum war sie nicht erwachsener. Es war zu dumm. Und kalt wurde es, kalt. Jetzt war es sicher bald aus mit ihr.

Die Ameise stand in ihrer noch fast neuen Küche. Sie sollte etwas essen, aber sie hatte keine Lust. Was sollte sie mit all dem schönen Zeug um sich her anfangen! Es war alles so sinnlos, so leer, so hohl. Vor zwei Monaten, als die Grille bei ihr angeklopft hatte, ja, da war sie noch zufrieden gewesen und stolz auf ihr gemütliches Häuschen und darauf, dass sie es im Griff hatte, nicht so wie diese abgerissene Grille. Aber jetzt ...wie sinnlos war das alles! Wann hatte sie eigentlich zum letzten Mal gelacht, wirklich gelacht ... und wann hatte sie sich zum letzten Mal verliebt? Wann hatte sie zum letzten Mal vor Glück geweint und wann hatte sie zum letzten Mal gestaunt, mit off'nem Mund wie ein Kind ... Hatte sie überhaupt jemals geliebt und gestaunt und vor Glück geweint. – Die Ameise setzte sich an den Küchentisch und legte ihren Kopf in ihre Vorderfüsse. Sie seufzte tief und einen Moment schien es, als ob sie weinen würde. Ihre Augen wurden feucht, doch nach einem zweiten Seufzer sass sie wieder still und unbeweglich. Wenn sie nur weinen könnte, dachte sie, und sie fühlte Mitleid mit sich und wurde traurig. Sie hatte alles falsch gemacht. Sie hatte immer nur geschuftet und nie gelebt. Jetzt sass sie da, war alt und aufgebraucht. Ach war das traurig ...-

Sie stand mühsam auf vom Tisch und ging zur Haustür. Sie zog die Moonboots an und nahm ihre Jacke vom Haken. Sie griff zum Korb und öffnete die Tür. Sie ging am Haus vorbei zum Schopf, wo sie das Brennholz für den Schwedenofen aufbewahrte, den sie sich vor einem Jahr geleistet hatte. Sie war müde. Als sie die Grille sah, stellte sie den Korb in den Schnee. Ihr Herz krampfte sich zusammen. Die Grille war tot. Die Grille war tot. Die Grille war – tot. Sie nahm den Korb auf, ging die letzten Schritte zum kleinen Schopf, sie öffnete den Riegel, trat ein und legte ein paar Scheite in den Korb. Sie zog die Türe zu und schob den Riegel vor. Sie ging langsam zum Haus. Die Grille war tot, erfroren. Dort drüben bei der Hecke lag sie. Die Ameise drehte den Kopf und warf einen langen Blick auf die magere, fast ganz von Schnee bedeckte Gestalt. Dann drehte sie sich um und ging ins Haus. Auf dem Tisch stand ein Teller mit Weihnachtsgebäck. Sie klopfte den Schnee von den Schuhen und stellte den Korb neben den Ofen.

© Martin Näf 2003, 2008