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Ein paar Tage in Berlin

Endlich! Ich sitze im Zug! Ich kann es noch nicht glauben. Alles, was ich noch tun musste, ist geschafft! Fünf freie Tage liegen vor mir und ich! Ich bin auf dem Weg nach Berlin! Ich habe mich wirklich getraut!

 

 



11. Juni 1990: Der Zug fährt. Eben wackelt er über die Weichen hinter dem badischen Bahnhof! - Ich bin total nervös! Keine Ahnung, wo ich schlafen werde, keine Ahnung, wie ich meine Tage in Berlin verbringen werde ... Diese grosse Stadt und ich -, ganz allein mit meinem weissen Stock! - Verrückt, wie mich diese Art der Herausforderung belebt -, wie vor drei Jahren, als ich für ein Wochenende nach Amsterdam fuhr oder wie während der zwei oder drei Aufenthalte in New York und San Francisco. Das totale Abenteuer ... Wenn ich sehen könnte hättet ich dieses starke Gefühl wohl nicht.

Davor, dass mir etwas "passiert" habe ich eigentlich nie Angst. Eher habe ich Angst davor, dass NICHTS "passiert", und ich stattdessen während fünf Tagen ganz eingeschüchtert am Rande des grossen Lebensstromes kauere und keinen Mut habe, hineinzuspringen und mit zu schwimmen.

Überleben werde ich auf jeden Fall. Da habe ich ein riesiges Vertrauen, die Frage ist nur wie. Werde ich den Mut haben, die Menschen nach dem zu Fragen, was ich will oder wird die grosse Schüchternheit mich unter sich begraben???

14. 6. 1990: Nein. Die Grosse Schüchternheit hat's bis jetzt noch nicht geschafft! Im Gegenteil! Es ist total spannend hier. Zuerst die Suche nach einem bezahlbaren Hotel, dann das "Bummeln" oder eher stochern durch die Stadt! Spannend der Spaziergang entlang der noch stehenden "Mauer" (Westseite) gestern Nachmittag und heute der Besuch im "Osten". Die VoPos am noch nicht offiziellen Grenzübergang Adalbert-Strasse haben nur mit den Schultern gezuckt, als ich sie fragte, ob ich auch ohne meinen Schweizer Pass über die Grenze könne: "Machen se mal, junger Mann. Im Augenblick scheint ja fast alles erlaubt!" Dann die Begegnungen auf dem "Todesstreifen" zwischen der West- und der Ost-mauer: Das kleine Mädchen auf dem Fahrrad, der Typ aus irgendeinem DDR-Dorf, der irgendwelche Rohre gesichtet hat und fast ausgerastet ist: "Hier hatten se natürlich solches Zeug! Für de Mauer hatten se natürlich alles was se brauchten! Und wir! Wir haben zehn Jahre auf so was warten können und haben nüscht gekriegt."

Vor sieben Monaten war hier wirklich noch Todesstreifen. Auf den Wachttürmen, auf denen wir uns heute Nachmittag über die seltsamen politischen Ereignisse der letzten Zeit unterhalten, standen damals noch Soldaten und ausser Hunden und anderen

Patrullien
bewegte sich nichts zwischen diesen beiden Mauern.

15. 6. 1990: Anstrengend is et schon! Immer wieder Leute fragen: "Können Sie mir sagen, wo ich hier in der Nähe was kleines zu futtern kriege", "können Sie mir sagen, ob es hier in der Nähe einen Second Hand Laden für Kleider gibt", "wissen Sie vielleicht, wie ich von hier nach so und so komme"! Und dann die Antworten! - Die Einen verstehen nicht, was ich eigentlich will, die anderen zeigen irgendwohin und wundern sich, wenn ich ihnen meinen Arm hinhalte und sage "zeigen se's mal mit meinem Arm, dann seh ig es vielleicht och!" Dann aber wieder die Glücksfälle: Lustige, liebe Menschen -, witzige Begegnungen -, Fragen und Neugier -, Gespräche, wie zB vorgestern abend mit Andreas, der mir zwei Stunden lang bei einem Glas Bier über seine Arbeit in Kreuzberg (Betreuung von Alkoholkranken) erzählt.

Und dann - ein anderes Wunder! - die Geschichte mit meiner Tasche: Ich denke, "wo find ich bloss so eine Stofftasche?". Mit Erklären und Fragen anfangen mag ich nicht -, zu anstrengend! - Lieber resignieren. Kommt Zeit kommt Rat denk ich, während ich nach gemütlichem Frühstück zwischen lauter Berliner Stimmen durch irgend eine friedlich sonnige Strasse gehe. Da? Was streift da über meine Schulter? Irgendwelche Kleider? Eine Geschäftsauslage ... - Ich fasse hin. Nein, keine Jacke, keine Hose, sondern eine - - Tasche und zwar genau die Art und Grösse, die ich mir vorgestellt habe! - Ich denke unwillkürlich (obwohl der Spruch ja ein wenig derb ist): Auch eine blinde Sau findet einmal eine Eichel!

Also Glücksfälle, Lichtblicke und Höhepunkte, Vergnügungen, heisse Stories und spannende Begegnungen gibt's auch neben all dem eher anstrengenden Fragen und Suchen! - Das ganze ist doch immer wieder ein sehr vergnügliches Abenteuer!

Copy 2019, Martin Näf