.

Geschichten und Begegnungen auf meinen Reisen

Ich lerne sehr gerne andere Menschen und Sitten kennen und ich höre unendlich gern Geschichten. Reisen bedeutet aber auch, aus meinem gewohnten Schema auszubrechen und mich auf neue persönliche Erfahrungen einzulassen. Und beim Reisen stelle ich mich auch besonderen Herausforderungen, sie animieren mich nachzudenken und mich mit grundlegenden Lebensfragen auseinanderzusetzen. - Hendicap Forum 2006 5

Die abenteuerlichste meiner Reisen
Das war bis jetzt die Reise nach Indien, von Oktober 2004 bis März 2005. Ich bin auf dem Landweg gereist, mit Bahn und Bus durch die Türkei und den Iran gefahren. Ich habe einen Monat in Pakistan verbracht und bin dreieinhalb Monate in Indien geblieben.

Welche Fähigkeiten oder Eigenschaften wichtig sind, wenn man sich mit einem Handicap auf eine abenteuerliche Reise begibt
Eine gute Vorbereitung, körperliche Robustheit und eine gewisse Erfahrung i'm Umgang mit «technischen» Problemen, mit denen man ja auch Zuhause ständig zu tun hat. Am wichtigsten ist mir jedoch die innere Fähigkeit, mit einer gewissen Gelassenheit oder sogar Neugier auf Hindernisse und «Probleme» zu reagieren. Dabei kann meine «Hilflosigkeit», die ich auf den Reisen stärker spüre als Zuhause, zu einem spannenden Abenteuer werden! Ich war zeitweise sehr unzufrieden, dass es für mich so ungeheur aufwändig ist, mir ein Bild zu machen, etwa von der weltberühmten Moschee in Isfahan oder die tausend Details, die es in den Strassen von Dehli zu sehen gibt. Auch wenn ich dem geduldigsten Menschen unendlich viele Fragen stelle und alles anfasse, kann ich die Dinge doch nie sehen! Das ist am Anfang je nach dem schlimm, aber dann kommen irgendwann die Fragen: Ja, was macht das Reisen denn für dich interessant? Weshalb hängst du jetzt so sehr von diesen Dingen ab und haderst mit deiner Blindheit? Zuhause vermisst du die Bilder doch auch nicht, und wie ist denn das jetzt mit dem »äusseren Schein» und dem, worauf es wirklich ankommt? Was bräuchtest du denn jetzt, damit es dir wieder besser geht? Mit der Zeit kommen die Antworten und plötzlich spüre ich wieder, weshalb ich genau auf dieser Reise sein will. Diese Auseinandersetzung empfinde ich unter dem Strich als sehr gut, aber sie kann wirklich hart sein.

Wer oder was hilfreich war für meine Unternehmungen?
Sehr hilfreich war ein Freund, der früher auf derselben Route gereist war. Ich habe ihn lange ausgefragt, habe die Namen von Grenzübergängen aufgeschrieben und versucht, mir ein möglichst konkretes Bild von der ganzen Route und den Dingen, auf die ich achten muss, zu machen. Es war meine erste Reise in Asien und da war ich schon nervös. Dann habe ich via Internet Kontakte, vor allem in Pakistan, ermittelt, um im Bedarfsfall ein paar Anlaufstellen zu haben. Über Stichworte wie «education», «blind» oder «handi- cap» bin ich auf interessante Webseiten gestossen. Auf diese Weise fand ich auch Ansprechpersonen, die mich über Projekte informierten und mich einluden, sie zu besuchen. Nützlich war im übrigen das Internetforum des Reiseführers «lonelyplanet».

Was mir das Abenteuer persönlich gebracht hat
Ich blicke auf viele lustige, spannende Begegnungen zurück. In der Türkei, im Iran und in Pakistan gab es viele heftige Gespräche über Politik, über den Islam, über Männer- und Frauenrollen, die Doppelmoral etc. In Indien habe ich mich mit dem Thema Armut auseinandergesetzt und mit der Frage, wie weit ich mich davon berühren lasse und wie weit ich helfen soll oder will. Ich war mit Themen und Problemen konfrontiert, mit denen ich hier kaum zu tun habe. Ich erhielt ein Gefühl für die Grösse und Vielfalt der Welt, das ich Zuhause an meinem Schreibtisch nicht erlebe!

Eine besonders schwierige und eine besonders schöne Episode meiner Reise
Sehr berührend war die Überquerung der iranischpakistanischen Grenze. Der Übergang wird ausser von Einheimischen kaum benützt. Vor allem auf der pakistanischen Seite gilt die Gegend als unsicher. Ich wusste nur, dass ich mit dem Bus bis nach Zahedan gelange, dort in ein «Shared Taxi» umsteigen und dann zu Fuss weitergehen musste. Schon im Bus merkte ich, dass keiner meiner Mitreisenden Englisch sprach. Als jemand beim Aussteigen auf mich einredete lächelte ich bloss, zeigte auf mich und sagte «Pakistan, me Pakistan». Der Mann nahm mich an der Hand und nachdem ich zur Sicherheit noch zweimal «Pakistan?» gefragt und auf mich gezeigt hatte, ging's los. Wir hatten uns offenbar verstanden. Der erste Mann übergab mich einem zweiten und so wurde ich von Hand zu Hand weitergereicht - liebevoll, fürsorglich und mit grösster Aufmerksamkeit bis hinüber nach Pakistan. Eine - im doppelten Sinn - berührende Erfahrung. Sie entspricht eigentlich dem Grundgefühl, das mich auf der ganzen Reise begleitet hat: Extrem viel liebe und aufmerksame Menschen. In Indien muss man manchmal etwas kämpfen, dort geht man eher in der Masse unter. Schwierige Erfahrungen oder wirklich gefährliche Situationen gab es aber nicht. Das schwierigste waren wirklich meine Stimmungen, doch die bringen einen ja nicht um.

Was ich denjenigen rate, die eine Reise, unabhängig von Angeboten wie «Ferien für Behinderte», ins Auge fassen
Wer Reise ungewohnt ist, sollte vielleicht nicht als Erstes nach Indien reisen. Ich würde sagen: klein anfangen, ausprobieren, die persönlichen Interessen ausloten, sich vorbereiten, sich freuen, aber nicht vergessen, dass es nicht immer nur toll sein kann. Im Übrigen ist Reisen Geschmackssache und Geschmäcker sind ja bekanntlich verschieden. Es können also auch durchaus Wanderferien im Bündnerland sein!

Martin Näf, Jahrgang 55, Pädagoge und Autor, lebt in Basel und ist blind seit seinem zwölften Lebensjahr. Er nimmt zu den Fragen des Handicapforums mit einem eigenen Beitrag Stellung. Hendicap Forum 2006 5