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Helfersyntrom

Wir können solche Gedanken natürlich als sozialromantische Träumerei abtun. Mit diesem lange geübten Reflex sind wir fein raus: Wir gelten als klug und überlegen und können uns weiter der Inneneinrichtung der Festung Europa widmen, während die andern draussen verrecken.

Ich kenne das überlegene Lächeln und die Argumente, mit denen wir als moderne und aufgeklärte Menschen und Humanisten auf die naiven "Good Doers" zu reagieren gelernt haben, auch von mir selber. Auch ich betrachte meine diesbezüglichen Reaktionen mit Skepsis. Zugleich ist mir jedoch auch diese Skepsis, diese scheinbar überlegene Vernünftigkeit, mit der wir auf unseren pestalozzischen Helferimpuls, die Stimme unseres Herzens, herabblicken, verdächtig.

Wenn die BettlerInnen in Bodh Gaya an meinem Ärmel oder meinem Hosenbein zupfen oder wenn sich die jungen Menschen dort um mich drängen, weil sie auf mein Geld, meine Hilfe hoffen, dann bin ich mit einer Realität konfrontiert, die wir uns normalerweise vom Leib halten, indem wir Polizei und Grenzschutz damit beauftragen, die Armen aus unseren Städten fernzuhalten und die Menschen, die in unser schönes Europa kommen wollen, an den Grenzen abzufangen.

Wie in "brave new world" ignorieren wir die Eingeborenen dort draussen und sind dabei noch stolz auf unseren abgebrüten Realismus. Dass die Sache nicht aufgeht, dass Europa nicht auf Dauer reich und die dritte Welt arm bleiben kann und wird ist eine andere Geschichte. IM Augenblick ist die materielle Ungleichheit zwischen der ersten und der dritten Welt noch so gross, dass wir sie ignorieren können. Solange ich zuhause in der Festung Europa sitze begegne ich dieser Ungleichheit in Form von Radioberichten oder Büchern oder in Form von Bettelbriefen und Einzahlungsscheinen.

In Indien habe ich die beiden Welten konkret erlebt, habe mich sozusagen auf die Trennlinie zwischen ihnen gesetzt. Ich habe mich berühren lassen und habe selber berührt – die dünnen Beinchen des Neffen von Shamshad, die Poliobeine von Aje, den aus aufgedröselten Jutesäcken gestrickten Pullover eines bettelnden Mädchens auf dem Bahnhof von Bolpur ...

Martin Näf, 2005 / 2019