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Unsere ach so friedliche Welt! Einige Gedanken zur Gewalt bei Kindern und Jugendlichen

Gewalt unter Kindern und Jugendlichen! Die Medien berichten seit Jahren fast jeden Tag davon! Es sei, so heisst es, mehr als nur ein Modethema. Fachleute sind besorgt - ernstlich besorgt! Es handle sich hier, so sagen sie, um ein historisch ganz neues Phänomen. Das Problem ist längst nicht mehr auf den Bereich der Schule beschränkt. Scheinbar unmotivierte Gewalttätigkeit tritt heute auch bei Drei- und Vierjährigen immer häufiger auf. Insbesondere in den städtischen Ballungsgebieten beginnt man nach geeigneten Massnahmen zu suchen, um die Sache "in den Griff" zu kriegen. So legitim und wichtig diese Bemühungen sind, so falsch wäre es, bei unserem Nachdenken über diese Thematik dort stehen zu bleiben. Es scheint mir wichtig, dass wir diese beunruhigende Entwicklung nicht nur als individuelles Problem bestimmter Kinder, sondern auch als soziales Alarmsignal verstehen und angehen. - Martin Näf

Deutschland, Österreich oder die Schweiz gelten offiziell als freie, friedliebende Staaten. Gewalt, Unterdrückung, Ausbeutung, Indoktrination oder Willkür sind Begriffe, die wir zumeist mit anderen, weniger "entwickelten" oder "zivilisierten", weniger friedlichen und aufgeklärten Staaten in Verbindung bringen. Bei genauerem Hinschauen erweist sich diese Sicht der Dinge allerdings bald als sehr einseitige, ja verlogene Idealisierung. In Wirklichkeit spielen Gewalt und Unterdrückung, Ausbeutung und Verführung auch in unserem (persönlichen und gesellschaftlichen) Leben eine zentrale Rolle, und die Zeiten sind - auch in den scheinbar begünstigten Gegenden der Erde - alles andere als friedlich. Getrieben von der Angst zu Verarmen, ins weltpolitische Offside zu geraten oder von unseren Nachbarn verschluckt und verdrängt zu werden, kämpfen wir ständig um mehr Macht, mehr Einkommen, mehr Einfluss und Prestige. Je enger der Lebensraum auf unserem Planeten wird, desto rücksichtsloser und brutaler scheint dieser Kampf zu werden. Und je mehr der Kampf sich zuspitzt, desto enger wird der Raum für vernünftige, menschen- und naturgemässe Lösungen im Grossen und Kleinen. All unsere Fähigkeiten, all unsere Institutionen, all unsere Wissenschaften (von der Ökonomie bis hin zur Psychologie, zur Theologie und Pädagogik) werden auf Grund ihrer Nützlichkeit in diesem Kampfe beurteilt. Das oberste Ziel all unserer Anstrengungen ist die andauernde Steigerung unserer wirtschaftlichen Produktivität und die ständige Expansion unserer wirtschaftlichen Macht. Unsere Vorgesetzten tun zwar noch so, als ob sie diese Entwicklung unter Kontrolle hätten, doch in Wirklichkeit ist uns diese Kontrolle längst entglitten. Obschon wir spätestens seit dem Beginn der 70er Jahre wissen, dass wir auf dieser Erde auf die Dauer nur dann eine echte Überlebenschance haben, wenn es uns gelingt, das unkontrollierte Wachstum der Weltwirtschaft in den Griff zu kriegen, gelten entsprechende Vorschläge auch in den materiell gesättigten Ländern heute mehr denn je als wirklichkeitsfremde und gefährliche Spinnerei. Statt die wirtschaftliche Flaute der letzten Jahre als positives Zeichen der Beruhigung zu begrüssen und uns endlich mit der Frage zu befassen, wieviel und welchen Wohlstand wir hierzulande wirklich brauchen und wollen, zerbrechen sich tausende von hochbezahlten Werbefachleuten die Köpfe darüber, wie sie das konsummüde Volk wieder auf Trab bringen können. Dass wir unsere Erde auf diese Weise immer mehr in eine grosse Müllkippe verwandeln, wird zwar bedauert, aber die Gesetze des internationalen Wirtschaftskrieges lassen diesbezügliche Rücksichten genauso wenig zu, wie eine ernsthafte Diskussion über den Wert unserer Arbeit. Auch wenn wir uns als Gesellschaft einig darüber wären, dass es im Grunde ganz sinnvoll ist, weniger zu arbeiten, um mehr Zeit für sich und für einander zu haben - Zeit zum Nichtstun und zum Spielen, Zeit, um uns wieder einmal mit alten Freunden zu treffen oder dem alten Herrn von nebenan beim Einkaufen zu helfen: Unsere Kriegsherren würden uns (mit Recht!) daran erinnern, dass wir uns diesen Luxus nicht leisten dürfen, wenn wir unsere Position im allgemeinen Wirtschaftskampf nicht mutwillig auf's Spiel setzen wollen ... Aus dem eher individualistisch geprägten "friss oder Stirb" früherer Jahrhunderte ist im Laufe der jüngsten Zeit ein allgemeines grosses Fressen und Auffressen geworden, bei welchem wir alle zugleich Täter und Opfer, Antreibende und Angetriebene sind. Gier, Angst und gegenseitiges Misstrauen sind die leitenden Motive dieses Prozesses, Übersättigung, Abfallberge und Verwüstung seine hauptsächlichen Ergebnisse. II Unsere Kinder erleben die Auswirkungen dieser Situation schon sehr früh: Anfänglich behandeln wir sie vielleicht noch mit einer gewissen Zärtlichkeit und nehmen uns Zeit, auf ihre Bedürfnisse einzugehen. Bald beginnen wir jedoch damit, sie in unsere knapp gewordenen physischen und psychischen Räume einzupassen. Ihr Bewegungsdrang, ihr Lachen und Herumrennen, kurz ihre urtümliche Vitalität wird, insbesondere in den Städten, bald zum Problem. Unsere am Prinzip des maximalen Profits orientierten Wohnungen sind meist zu hellhörig und zu eng. Einen Garten kann sich nur leisten, wer es in dem allgemeinen Kampf Aller gegen Alle zu etwas gebracht hat. Die Strassen sind vom volkswirtschaftlich so bedeutenden, lauten und gefährlichen Verkehr belegt. Da wir den Verkehr nicht anhalten können und auch sonst nur wenig Einfluss auf die Situation haben, müssen die Kinder sich meist fügen. Sie müssen lernen, still zu sein und ihren Bewegungsdrang zu kontrollieren. Zum Glück springt die Unterhaltungs- und Spielzeugindustrie mit zahllosen Angeboten in die Lücke. Dass diese Angebote die eigentlichen Bedürfnisse unserer Kleinen, ihren Wunsch nach Nähe und Zärtlichkeit, ihr Bewegungsbedürfnis oder ihre Abenteuerlust mehrheitlich nicht befriedigen, ist menschlich gesehen zwar vielleicht bedauerlich. Vom volkswirtschaftlichen Standpunkt aus betrachtet ist dies jedoch eher ein Vorteil, ja sogar eine Notwendigkeit, denn zufriedene Menschen sind, langfristig gesehen, schlechte KonsumentInnen ... Es ist gewiss nicht böser Wille, sondern eher eine Art kollektiver Abstumpfung: Aber kinder-freundlich ist unsere Gesellschaft wirklich nicht. Dies wird in besonders erschreckender Weise deutlich, wenn wir uns überlegen, was wir eigentlich meinen, wenn wir beispielsweise sagen, "er (oder sie) hat mich behandelt wie ein Kind". "Wie ein Kind" behandelt zu werden ist offenbar etwas, das wir uns von niemandem gefallen lassen! Dass wir Kinder sehr häufig und ganz selbstverständlich "wie Kinder" behandeln, scheint eine andere Geschichte. III Schon zu Beginn der Industrialisierung vor rund 200 Jahren war es allgemein klar: Der Auf- und Ausbau einer eigenen Industrie und der erfolgreiche Einstieg in den an Bedeutung schnell zunehmenden Welthandel ist ohne eine gut ausgebildete Arbeiterschaft und ohne eine ebenso gut ausgebildete Führungsschicht nicht möglich. Damals wurde "Bildung" - ehedem eine rein private, eng mit persönlichen Interessen und Liebhabereien verknüpfte Sache - als "Motor des Fortschritts" entdeckt und in den Dienst genommen. Statt ein Ort der Begegnung, ein Ort des Spiels und Experimentes, ein Ort der Musse, ein Ort der Geborgenheit und Anregung zu sein, ein Ort also, wo Kinder sich wohl fühlen, wo sie sich die seelische und geistige Nahrung holen können, die sie für ihr Aufwachsen benötigen, ist die moderne Schule seither - trotz aller anderslautenden Propaganda - eine mit einem demokratisch humanistischen Deckmäntelchen geschmückte, auf Gehorsam und Anpassung beruhende Dressur- und Indoktinationsanstalt, in der die Jugend auf ihre Teilnahme am grossen Kampf vorbereitet wird. In der Schule lernt das Kind, sich immer nur so zu verhalten, wie es die Schule bzw. die Lehrerin oder der Lehrer will. Es lernt "mitzumachen" ohne sich gross zu fragen, ob es überhaupt mitmachen will. Es lernt, sich stundenlang mit Dingen zu beschäftigen, auch wenn es diese durchaus uninteressant findet. Es entwickelt (meist ohne dies selbst zu merken) ein sehr feines Gespür dafür, was in einer Situation erlaubt und was nicht erlaubt ist. Es lernt, dass es "dumme" und "gute" Fragen, "falsche" und "richtige" Antworten gibt, und dass es sich bezahlt macht, möglichst nur "gute Fragen" zu stellen und nur "richtige Antworten" zu geben. Es lernt, dass es "gute" und "schlechte" SchülerInnen gibt, und dass die "Schlechten" sitzen bleiben, während die "Guten" befördert werden. Schliesslich lernen die Schüler und Schülerinnen auch, dass all dies normal und notwendig sei, und man es mit ihnen nur gut meine. Die Kinder sollen Unterwerfung nicht als Unterwerfung, sondern als freiwilliges Mitmachen und Angst nicht als Angst, sondern als Vernunft erleben. Sie sollen Gewalt als freundschaftliche Führung und Befehle als wohlgemeinte Ratschläge erleben. Die Schule hält ihre Lehrkräfte in jüngster Zeit deshalb stets dazu an, in allem was sie tun mit grosser Sanftmut und Geduld vorzugehen. Der Eindruck von Zwang und Unfreiheit soll möglichst vermieden werden, um das Image dieser nach wie vor sehr anerkannten Einrichtung nicht zu gefährden, und die SchülerInnen nicht unnötig rebellisch zu machen. Wer sich allerdings weigert, das Spiel der Schule mitzuspielen, muss, wenn auch Ermahnungen und "ein offenes Gespräch" nicht helfen, gehen. Dies gilt nota bene auch für die scheinbar so mächtigen LehrerInnen und alle anderen ExpertInnen, die für die Schule arbeiten. Wenn unsere Kinder die Schule nach 10 oder 12 Jahren verlassen, haben sie all die Denk- und Verhaltensweisen verinnerlicht, die sie brauchen, um sich ohne grössere Skrupel, ja vielleicht sogar mit Lust in den grossen Krieg, den wir Fortschritt nennen, zu stürzen. Sie haben gelernt, dass äusseres Lob wichtiger ist als innere Zufriedenheit, dass gut Tanzen können nichts bringt und dass es gefährlich ist, wenn man zuviel von sich Preis gibt oder den Mächtigen zu deutlich widerspricht. Sie haben sich daran gewöhnt, das Sinnlose sinnvoll, das Normale abnormal und das Böse gut zu nennen. Kurz: Sie werden die Erwartungen der Kriegsherren aller Voraussicht nach nicht enttäuschen ... Es ist ja nicht so, dass das, was ich hier einigermassen zynisch beschreibe, von Andern nicht gesehen und beklagt wird. Doch es ist hier wie im Bereich der Wirtschaft: Wir können uns "vernünftige Lösungen", d.h. ein humanes, ökologisch verantwortbares Bildungswesen u.ä. zwar vorstellen, doch bleiben diese Vorstellungen schöne Wunschträume, solange wir im globalen Miteinander keinen anderen Weg finden als den, auf dem wir uns zur Zeit zu bewegen scheinen. Wir können auf die Übersättigung unserer SchülerInnen oder auf ihre individuellen Bedürfnisse keine oder doch nur sehr wenig Rücksicht nehmen, solange unsere Schulen eine so zentrale Rolle im internationalen Wirtschaftskampf spielen. Wir können in unserem Bildungswesen nicht auf Druck, Verführung und Dressur verzichten, wenn wir nicht dazu bereit sind, unsere Schulen von der Pflicht zu befreien, ihre SchülerInnen nach ganz bestimmten Normvorgaben zu "bilden"! IV Nein, ich denke nicht an eine perfekte Traumwelt! Misstrauen, Angst, Egoismus und ähnliche Dinge werden immer Teil unseres Lebens und Zusammenlebens sein. Ich hoffe nur, dass es uns -angesichts der gegenwärtigen Not - gelingt, diesbezüglich zu einer besseren Balance zu kommen-, dass wir, als Einzelne und als Kollektiv, lernen, nicht nur auf Misstrauen und Angst, sondern auch auf Vertrauen und Offenheit und ähnliche Kräfte zu setzen, sodass wir fähig werden, uns auf vernünftige Lösungen einzulassen ehe es "zu spät" ist. Ja. Dies hoffe ich. Aber es ist schon so, dass mir diese Hoffnung oft ziemlich kindisch vorkommt, und ich nichts anzubieten habe ausser meinen Pessimismus! "Unterwegs", 1.Jg. Nr.2/94 Copy 1995, 2019, Martin Näf