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Behindert? Ein Mail

Es ist schon etwas eigenes mit diesem Behindertsein. Man ist ja ein Mensch wie jeder andere, so wird einem von allen Seiten und zu fast allen Zeiten beteuert, aber in meinem Gefühl ist diese gute Nachricht offenbar noch nicht angekommen, obwohl ich andauernd in meiner Psyche herumwerkle und sie bzw. mich in Sachen Selbstbewusstsein auf Vordermann zu bringen versuche.

 

Es ist ein wenig wie mit dem Schwulsein - süss klingt die Melodie der Toleranz, doch mein Herz glaubt dem Gefiedel nicht so recht. Es sitzt misstrauisch auf der Mauer und guckt zu. So schnell vergess ich nicht. Und was hab ich doch in Sachen Behinderung vor zwei oder drei Tagen gelesen: ein japanisches Forscherteam hat eine Methode gefunden, die es vielleicht bald ermöglichen soll, den Gesundheitszustand eines Fötus im Blut der Mutter feststellen zu können. Damit werden die etwas riskanten und uneleganten Fruchtwasseruntersuchungen unnötig; es genügt ein Tröpfchen Blut der Mutter und die Sache ist im Butter! "Treiben Sie ihr Kind doch ab, es gibt schönere!" "O, es ist kaputt? Dann werfen Sie's doch weg und Sie sind die Sorgen los!"

Blindsein ja oder nein
Ich will nicht lange über die Dummheit der Welt jammern und damit um den heissen Brei reden. Meine Behinderung ist dramatisch, ich bin blind. Ich sage dramatisch, weil ich denke und dies immer wieder mal höre, das Blindheit für viele Menschen zum "Schlimmsten" gehört, was sie sich vorstelln können. Ich selbst finde mein Blindsein überhaupt nicht dramatisch oder schlimm. Im Gegenteil. Ich finde das Blindsein meistens interessant, eine spannende Herausforderung, etwas, was mich daran gehindert hat, allzu schnell normal zu werden und Karriere zu machen im Teich der Haie. Im übrigen spielt das Blindsein eigentlich keine grosse Rolle, wenn ich an all das denke, was mich ausmacht, was mich bewegt, bedrückt, begeistert, berührt und interessiert.

Natürlich gibt's Momente, wo es weh tut, nicht sehen zu können, Momente, in denen ich das Sehen wirklich vermisse! Oft ist's auch sau unpraktisch, wenn ich irgendwo im Sumpf stehe und keine Ahnung hab, was jetzt um mich los ist und wo's lang geht. Da kann mir dann schon mal die philosophische Ruhe und die Freude an der Unbeholfenheit abhanden kommen, sodass ich nur noch stresse oder fluche oder mich deprimiert in einen Winkel meiner Seele zurückziehe, doch wie gesagt: Diese Momente sind eher selten. Ich lasse mich auch nicht so leicht wegschüchtern und beeindrucken. Aber dann, wenn ich mit zumindest theoretisch doch erfüllbarer Liebeshoffnung im Herzen auf einen Mann zugehe oder dann, wenn ich auf eine Stelle hoffend an eine Türe klopfe, da werden meine Knie noch immer weich und es wird mir mulmig in der Magengegend. In solchen Momenten merke ich, wie tief ich die Negativbewertungen von Behinderung und Blindheit internalisiert habe. Plötzlich steigen sie aus ihren Gräbern, bleich und irreal und fangen an in mir herumzugehen, mich zu umstehen und anzuglotzen: "E blinde, lueg, e Blinde!" "Oje, e Blinde! Oje!" "Lueg dört, ..." - Ich fange an, mich gegen die Invasion der Gespenster zu wehren, doch sie sind zäh und ich merke, wie ich mir abhanden komme, wie ich zum Bettler werde, genauso wie es vorgesehen ist im internationalen Rollenspiel. Ich werde traurig und verliere meinen Mut. - IN solchen Momenten brauche ich Freunde, die verstehen, Freunde, bei denen ich einmal abladen, fluchen, jammern und weinen kann. Aber ehrlich: hat man das nicht auch ohne blind zu sein? Man kann nicht gut "blind" sagen, wenn man nicht "blind" ist, aber man könnte sich hässlich finden oder dumm, unatraktiv oder uninteressiert. Also nichts ungewöhnliches? Ja und nein, ja: ja und nein!

Hände
Ob meine Hände besonders fein oder gschpürig sind ... ja, man denkt sich das so, aber ich bin mit derlei Aussagen vorsichtig. Natürlich brauche ich meine Hände sehr viel und wohl auch (ohne mir dessen bewusst zu sein) intensiver als jemand, der sieht. Etwas zu berühren ist wie etwas sehen. Dabei reicht oft ein kurzer Griff, ein flüchtiges Drüberstreifen, und ich weiss um was es geht. Das ist vielleicht eine besondere Geschicklichkeit. Auch das Lesen mit den Fingerspitzen ist so etwas. Aber wenn ich z.B. an so etwas wie Massage oder Reiki denke, komme ich mir nicht besonders sensibel vor. Da ist ja mehr gefragt als wache Hände. Mit dem Hören und dem Riechen ist's ähnlich. Es gibt viele Menschen, deren Sinne schärfer sind als bei mir, aber meine Aufmerksamkeit ist natürlich an Orten, an denen sie vielleicht weniger wäre, wenn ich dauernd mit sehen beschäftigt wäre. Neben den Ohren denke ich da vor allem auch an so was wie "das Innere", Körpergefühl und sonstige, nach innen gehende Wahrnehmung.

Lesen
Deine Texte werden mir von meinem Quaselcomputer vorgelesen. Das ist eigentlich eine gute Sache, natürlich zuerst etwas gewöhnungsbedürftig, weil der Computer nicht gerade ein sensibler Vorleser ist. Ich kann zwar verschiedene Stimmen auswählen, kann das Tempo und die Lautstärke bestimmen, doch danach behandelt der Kasten alles gleich, egal ob's dabei um ein Rezept für Spaghetti carbonara oder ein Mail von Dir oder um sonst was geht. Wie gesagt, gewöhnungsbedürftig, aber jedenfalls praktisch. Vielleicht ähnlich wie die Druckschrift, welche im Grunde ja auch eine totale Standardisierung bedeutete. Egal ob Liebesseufzer oder Drohbrief: Die Buchstaben verändern ihr aussehen nicht, sie fangen nicht an zu zittern oder sich vorzubeugen oder zurückzulehnen und aus der Reihe zu tanzen wie in den Zeiten als man solche Dinge noch mühsam von Hand zu Papier brachte.

Unbefriedigend ist die Vorleserei u.a. bei Gedichten, die würde ich lieber selber lesen. Mit den "Veränderungen" ging's noch, aber die "Morti"-Worti wollten nicht so recht hüpfen und springen - legato apassionato stacato moderato - wie Du mir empfohlen hast. Das war sehr schade, so wie wenn ein Publikum nicht reagiert. Ich sass vor dem Compi und wollte die Kiste irgendwie zum Leben und tanzen bringen, aber mira bira bim bam bumm, die Maschine erwies sich als ziemlich dumm. Wenn ich einen Blindenschriftdrucker hätte, hätte ich den Text sicher ausgedruckt, um ihn richtig (d.h. von Hand!) zu lesen und die Worte zum tanzen zu bringen. Mira bira 23, Worti torti lassmal rann hat mir sonst aber gut gefallen 23, gefallen 23 fallen 23 fallen 23 und humor im tor und chor kann mich rann und fühlen im chor den tor und 23 23 23 Schluss mit dem Stuss! O Erguss! OOO Erguss!

Vorsicht!
Du hast geschrieben, mein Blindsein sei für Dich kein Problem. Nun ja. Es wird sich weisen. Ich weiss es nicht. Es fehlt da vielleicht einiges, was Dir sehr wichtig ist. Aber so oder so, ändern kann ich's nicht. Weisst Du, ich bin da vielleicht auch etwas zynisch oder hart, weil - ja warum eigentlich. Ach, die zu schnell bekundete Akzeptanz und die zu leicht beteuerte Toleranz. Ich traue den Menschen da nicht - auch bei Dir will ich die Frage vorläufig lieber noch ein wenig offen lassen. Klar. Du bist ein aufgeklärter und denkender Mensch. Aber - und da schliesse ich vielleicht zu schnell von mir auf andere -, ich kenne ja die Gespenster, die in bestimmten kritischen Momenten aus ihren Gräbern steigen und mich zum Invaliden, zum Mindermenschen machen. Ich spüre die mitleidigen Blicke und sehe, wie Doktor Mengele seinen weissen Kittel anzieht, um mich von meinem Leid zu erlösen. Da denke ich mir, dass solche Reste doch auch in Dir und anderen sind! Wenn man sich kennt, ja dann, aber diese Vertrautheit braucht Zeit. Nicht ewig, aber doch ein bisschen Zeit.

Ich bin nicht so wie die anderen
Als ich ein halbes Jahr alt war hat man gemerkt, dass mit meinen Augen etwas nicht stimmte. Ich hatte was man so "frühkindliches Glaukom" nennt. Ich musste operiert werden, um den ständig steigenden Augendruck in Griff zu kriegen. Das hat gut funktioniert, doch die Augen hatten in der Zeit schon stark gelitten. Nach diesem Eingriff, also so ca. ab meinem 6. Lebensmonat musste ich alle paar Wochen nach Zürich ins Augenspital, um den Augendruck zu messen. Das ging damals nur mit einer leichten Vollnarkose ... Diese fahrten von Meggen, wo wir damals wohnten, nach Zürich waren für meine Mutter und für mich (mein Vater war wohl selten dabei) ein ziemlicher Stress. Oft kriegte ich im Vorfeld einer solchen Fahrt Fieber. Ich glaube, die Narkosen waren schlimm, denn da war kein vertrauter Mensch, nur fremde Gestalten, weisse Kittel und dunkle Gänge und dann der Gestank (des Äthers) und die Ohnmacht. Meine Mutter musste im Wartezimmer bleiben.

Als ich ein Jahr alt war, war ich für ein paar Wochen im Spital, wider der Augen wegen. Dabei kriegte ich eine Lungenentzündung. Es muss damals ziemlich knapp gewesen sein. Ich habe eine vage Erinnerung (vielleicht auch das Produkt späterer Erzählung) an sehr viel weisse Gestalten, die um mein Bett herum stehen und irgendwie sehr still sind. Damals sagte einer der mich behandelnden Ärzte zu meiner Mutter, dass es doch vielleicht besser wäre, wenn ich sterben würde, da ich doch nie ein "normales" Leben würde leben können. - Und ich liege da und hoffe, dass die mir helfen zu leben. Naja.

Später gab's immer wieder ähnliche Geschichten. Viel Unbeholfenheit von Seiten der Ärzte, zum Teil auch einfach Dummheit und Schnodrigkeit. Für diese Menschen war es klar, dass ich mit meiner starken Sehbehinderung (damals konnte ich noch so la la sehen) mein Fleisch nicht selber schneiden oder auf einen Baum klettern kann. Zu gefährlich. Einmal, ich war fünf oder sechs Jahre alt, verletzte ich mich mit einer Schere am Auge, weil ich beim Ausschneiden eines Strohsternes so nah ran musste, um alles gut zu sehen! Der Augenarzt - Trottel vom Dienst - behandelte den kleinen Kratzer auf der Hornhaut und machte meiner Mutter vorwürfe, weil sie mir eine Schere in die Hand gegeben hatte. "Nein also".

Wenn diese Menschen hörten, dass ich noch immer in der gewöhnlichen Primarschule sei, dann staunten sie nur. Wie soll das gehen. Er muss doch in ein Heim ... Es gab Ausnahmen, echte Anteilnahme, echtes Interesse, aber die "er kann doch nicht ...", "es ist doch besser für ihn ..."-Reaktionen überwogen.

Ich schreibe oder rede nur selten über diese Dinge, denn meistens kümmern sie mich nicht, doch wenn ich versuche, zu verstehen, weshalb ich den scheissnetten Menschen ihre Toleranz nicht so leicht abnehme, dann kommen mir diese Dinge in den sinn, Stories und tägliche kleine Begegnungen, die es bis heute gibt. Immer musste und muss ich beweisen und zeigen, dass es schon geht, dass es nicht so schlimm ist ...

Immer wieder kämpfen
Als ich Ende 1996 mit dem Containerschiff über den Atlantik wollte, stand im Vertrag: "Menschen über 65 nur mit ärztlichem Zeugnis; Menschen mit Behinderung ausgeschlossen", und als ich letzten Sommer meine erschlaffenden Muskeln im Fittodrom um die Ecke aufmöbeln wollte (eine absurde Idee!), erklärte mir der Manager, dass das für mich zu gefährlich sei. Beidesmal musste ich reden, musste ruhig zuhören und geduldig sein, musste argumentieren und erklären und bitti bätti machen bis ich schliesslich meine Chance kriegte. In diesem beiden Fällen waren meine Verhandlungen erfolgreich, in anderen nicht.

Die Zeiten waren für mich wohl doppelt schwierig dadurch, dass ich mit 12 1/2 blind geworden bin. Vorher konnte ich mich in bekanntem Gebiet noch ziemlich "normal" bewegen, konnte die üblichen Spiele mitspielen, auch wenn ich z.B. den Ball beim Fussballspielen nie sah. Ich habe ja gesehen, wo die anderen alle hinrannten und da bin ich dann eben auch dorthin gerannt und irgendwann sah ich dann auch den Ball. Das ging also. Ich war, sozial gesehen, kein Aussenseiter. Dass ich im Unterricht von der zweiten Primarklasse an eine Schreibmaschine und eine Blindenschriftmaschine benützt habe, das war neu und man wollte sehen, was das Ding machte. Aber bald gab es wieder spannendere Sachen.

Als ich dann aber nach zwei Monaten Spitalaufenthalt - jetzt war ich in der sechsten - wieder in dieselbe Klasse zurückkam, da war alles anders: Ich stand im Leeren, sah während der ersten Monate allenfalls noch die Umrisse eines Fensters oder einer Türe, wenn es dahinter sehr hell war, sonst nichts. Um mich herum standen die Klassenkameraden - alle mehr oder weniger verlegen. Ich sah sie nicht. Ich war zwei Monate weg gewesen. Sie wollten mich begrüssen, aber abgesehen vom Sehen, was sagt man denn da. Die meisten von uns kamen in der Zeit sowieso gerade in die Pubertät, wo alles irgendwie anders und etwas peinlicher war als früher ... Ich versuchte, locker zu sein und cool zu tun. Ich war ja wieder da. Und jä nu, s Läbe goht witer! Aber in mir war nur Verlorenheit und Scham. Doch darüber redete man nicht. Man klopfte mir auf den Rücken, man hiess mich willkommen und - was sollte man noch sagen ... Die Hand geben? Sich umarmen? Zusammen stehen und reden? Nein, das sicher nicht!

Irgendwie will ich das alles erzählen, möchte vielleicht auch selber besser begreifen, was da eigentlich alles in mir drin steckt, doch für heute habe ich genug auf diesem Friedhof herumgestochert. Die Gespenster können wieder in ihre Gräber!

Copy 2003 Martin Näf