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Ich bin ganz dein ... ich bin ganz mein ...

Es gibt Tage und Wochen, während welcher mich diese ganze Sache überhaupt nicht beschäftigt. Dann aber, an einem harmlosen Tag ohne Pflichten und Ablenkungen, an einem Tag wie heute, schleicht sich die Erregung an, breitet sich aus und nimmt von mir besitz. Gestern dachte ich noch an Bücher, wichtige Gedanken, grosse Projekte zur Förderung der Menschheit. Alles war hell und klar in mir, und heute bestehe ich scheinbar nur noch aus sexuellen Fantasien und körperlicher Unruhe und Lust.

Ich träume davon, gepackt und gedemütigt, ausgezogen, gequält und gevögelt zu werden. Nichts sonst scheint mich mehr zu interessieren, nichts sonst ist mir wichtig. Die grossen Gedanken von gestern sind zu leeren Schablonen geworden, schweben kraft- und bedeutungslos irgendwo am Horinzont meines Wesens.

Ich könnte mit diesen Überfällen einfacher zurecht kommen, wenn ich dabei von den Zärtlichkeiten einer schönen Frau, von Intimität und Geborgenheit und von sich lustvoll steigerndem sexuellen Genuss träumen würde. Ich könnte damit auch zurecht kommen, wenn ich von den Zärtlichkeiten eines liebevollen Mannes, von der Geborgenheit in seinen Armen und vom Glück seiner Liebe träumen würde. Doch was mich überfällt sind sadistische und mehr noch masochistische Fantasien, in denen ich zum Dienen gezwungen werde, in denen ich missbraucht und vergewaltigt, erniedrigt, angepisst, gefesselt und geschlagen werde. Fantasien, in denen ich in engen Lederklamotten stecke und vor meinem Meister knie und seinen Schwanz oder seine Stiefel lecke.

Lange habe ich mich nach einem liebevollen, zärtlichen Freund, nach Nähe und Hingabe gesehnt, bis dann – vor fünf, sechs Jahren – diese bizarren Bilder an die Stelle jenes romantisch schmerzlichen Sehnens traten. Mein wohl erzogenes Karriere-Ich wollte diese Fantasien nicht, will sie auch heute nicht. Doch mein Tier-Ich will sie, will sie immer entschiedener.

Vom Standpunkt bürgerlicher Normalität und Wohlanständigkeit aus betrachtet wirken diese Fantasien befremdlich und abstossend. So viel Schmutz und Kaputtheit, so wenig wirkliche Liebe, so wenig Gespräch und Zuneigung. Und doch. Ein tiefes Gefühl in mir will nur das, als ob unter dieser ungewöhnlichen Oberfläche genau die Sehnsucht nach der grossen Liebe steckt, an der ich früher so viel gelitten habe. Komprimiert vielleicht und pervertiert, letztlich jedoch nichts anderes als der Ausdruck einer tief menschlichen Sehnsucht. Auf dem neuen Weg allerdings vielleicht ebenso unerreichbar wie auf demjenigen, den ich früher gegangen bin.

Weshalb nimmt die Sehnsucht aber diese Form an? Weshalb versenke ich mich nicht in östliche Meditation? Weshalb beginne ich nicht zu fixen? Weshalb werde ich nicht zum zwangsneurotischen Prediger sexueller Abstinenz? Weshalb fliesst meine Sehnsucht nicht in irgendwelche Texte oder Skulpturen? Weshalb singe ich keine Liebeslieder? – Die Frage ist vielleicht müssig. Immerhin: Meine Aufgestaute Sehnsucht könnte doch einen anderen Ausdruck und Ausweg finden. Vielleicht auch einen, der meinem übrigen Wesen mehr entspricht, und der eher "ins Freie" führt als es der jetzige Weg tut. Es wären hellere, sozial akzeptablere und damit scheinbar produktivere Varianten meiner Leidenschaft. Sie wären aber vielleicht auch banaler und oberflächlicher, würden letztlich nicht in dieselbe Tiefe führen wie die Hingabe, nach der ich mich sehne.

Totale Selbstaufgabe und Vernichtung meines Ich sind vielleicht der einzige Weg, der wirklich weiter führt. Per aspera ad astra. Nur wenn ich es wage, mich ganz aufzehren und verbrennen zu lassen, kann ich aus meiner Asche neu erstehen. Dabei müssten in dem Feuer allerdings auch tiefe Liebe und Anteilnahme spürbar sein. Liebe für den leidenden Menschen und Anteilnahme an meiner Sehnsucht. Es wäre im letzten ein zärtliches Feuer.

Copy 2002, Martin Näf